Für die deutsche Seite ging es bei der geheimen Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee von 1920 bis 1933 um die qualitativen Grundlagen der späteren Wehrmacht. Die russische bzw. sowjetische Seite hat vor allem von den Deutschen lernen wollen und auf moderne Technologien gehofft. Für sie sei insbesondere der Offiziersaustausch wichtig gewesen. Das berichtete der Historiker Manfred Zeidler aus Frankfurt/Main am Dienstag in Berlin.


Bekannte Geheimnisse
Zeidler und Kantor können sich auf deutsche und sowjetische bzw. russische Dokumente stützen, die Jahrzehnte zuvor nicht zugänglich waren. Lange Zeit war die Zusammenarbeit zwischen Roter Armee und Reichswehr geheim gehalten worden, aus verschiedenen Gründen, auch wenn sie nie ganz verborgen blieb. „Russland bewaffnet die Reichswehr“ war zum Beispiel bereits 1927 in einer kleinen Broschüre, herausgegeben von der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), zu lesen. Darin wurde über damalige Enthüllungen britischer Medien über die geheime Kooperation berichtet, an der deutsche Firmen wie Junkers und Rheinmetall beteiligt waren und die den Bau von Flugzeug- und Munitionsfabriken sowie solcher für die Giftgasproduktion einschloss.
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Deutschland und Russland seien nach Ende des 1. Weltkriegs zwei Paria, also Ausgestoßene, des Weltgeschehens gewesen, beschrieb Historikerin Kantor die Ausgangslage, die zur geheimen Zusammenarbeit führte. Die drastischen Vorgaben des Versailler Vertrages im militärischen und Rüstungsbereich zu umgehen, das sei Motiv der deutschen Seite gewesen.
Gegenseitiger Nutzen
Der deutsche Reichswehrchef General Hans von Seeckt habe 1921 gesagt: „Was wir brauchen, ist ein starkes Russland, dann brauchen wir kein Polen und kein Litauen.“ Sowjetrussland, von niemandem international anerkannt, habe gegen Ende des Bürgerkrieges nach Partnern im Westen gesucht. Lenin habe die Zusammenarbeit mit Deutschland gewollt, um Zwietracht unter den Staaten der Entente zu säen, die antisowjetisch agierten, und den Westen zu spalten.
Sowjetrussland sei nicht am Versailler Vertrag beteiligt gewesen, erinnerte Kantor. Es habe sich deshalb nicht an dessen völkerrechtlichen Verbote in Sachen Militär und Rüstung gebunden gefühlt. Die Historikerin meinte, Stalin habe bereits vor seiner Machtübernahme und danach die Zusammenarbeit mit Deutschland gefördert. Dafür gebe es kaum Belege, sagte Zeidler dazu gegenüber Sputnik.
Konkrete Projekte
Beide Länder arbeiteten seit 1920 auf mehreren Gebieten zusammen, die Kantor aufzählte: In der Luftfahrt, bei Chemiewaffen, die Entwicklung von Panzern sowie den Austausch von Geheimdiensterkenntnissen. Auf der deutschen Seite sei dafür die „Sondergruppe Russland“ verantwortlich gewesen. Ihre Partner auf sowjetrussischer Seite seien vor allem das Volkskommissariat für Verteidigung sowie das für Inneres (NKWD) neben anderen gewesen.Die konkreten Projekte wie gemeinsame Fabriken und Ausbildungsgelände seien nur auf dem Territorium der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) umgesetzt worden. Dazu gehörten unter anderem die Panzerschule in Kasan, die Fliegerschule in Lipezk und das Gastestgelände „Tomka“ bei Volsk. In Leningrad und Tula seien unter anderem gemeinsam mit der Firma Krupp Munitionsfabriken errichtet worden, so die Historikerin.
Paritätische Aufteilung
Ausbilder und Auszubildende in der Panzer- und der Fliegerschule seien streng paritätisch, also mit gleicher Zahl, verteilt gewesen. Insgesamt jeweils 125 sowjetische und deutsche Piloten hätten die Kurse in Lipezk absolviert, während in Kazan jeweils 80 Panzerfahrer und 80 Techniker ausgebildet worden seien. Laut dem Historiker Zeidler ist es vor allem der Reichswehr nicht um Masse gegangen. Entsprechend des eigenen Zellenbildungskonzeptes seien die in der Sowjetunion ausgebildeten Piloten und Panzerfahrer als Grundstock der späteren Wehrmacht gedacht gewesen und auch eingesetzt worden.

Laut Kantor hatten die beteiligten sowjetischen Offiziere durchgängig ihre militärische Laufbahn in der zaristischen Armee begonnen. Sie entstammten aus der gleichen Generation wie ihre deutschen Partner, mit gleichen Erfahrungen als Soldaten. Das sei so weit gegangen, dass sich die führenden Offiziere der Roten Armee und der faschistischen Wehrmacht, die sich im September 1939 nach der Aufteilung Polens bei der gemeinsamen Parade in Brest-Litowsk wieder trafen, in einer Sprache verständigt hätten: in Französisch.
Personelle Spuren
Die deutschen Absolventen von Kazan und Lipezk seien später in führenden Positionen unter den faschistischen Truppen zu finden gewesen, die die Sowjetunion überfielen und zuvor in der „Legion Condor“ den faschistischen Putsch in Spanien von 1936 bis 1939 unterstützten. Zeidler nannte zudem Beispiele aus dem deutschen „Afrika-Korps“. Er wies auf „personelle Spuren bis in die Bundeswehr hinein“ hin und zählte eine Reihe von Offizieren auf, die beispielsweise ab 1957 die Bundesluftwaffe im Rahmen der Nato aufbauten.
So sei der Befehl zum Aufbau der 1. Luftwaffendivision in München sei von einem Lipezk-Absolventen gekommen, von Generalleutnant Josef Kammhuber, Inspekteur der Bundesluftwaffe. Erster Kommandeur der Division sei mit Brigadegeneral Max Ibel ebenfalls jemand gewesen, der auf der deutsch-russischen Fliegerschule zwischen 1928 bis 1932 ausgebildet wurde.
Getestete Waffen
In Lipezk wurden laut Zeidler unter anderem die Taktik des Bombenangriffs im Sturzflug („Sturzkampf“ – „StuKa“) und der Prototyp K 47 des späteren „Stuka“-Bombers Junkers Ju 87entwickelt und getestet. Alle deutschen Waffen, die später im Zweiten Weltkrieg und im Krieg gegen die Sowjetunion von Bedeutung waren, seien auf deren Territorium entwickelt worden, so der Historiker.

Er zitierte als Fazit den Titel einer 1992 in Russland erschienenen Dokumentensammlung über diese Zusammenarbeit: „Das faschistische Schwert wurde in der Sowjetunion geschmiedet“. Allerdings müsse der provokante und zugespitzte Titel geändert werden: „Geschmiedet in der UdSSR – nicht nur, aber gewiss auch“. Denn die Deutschen hätten die eigenen Waffenentwicklungen nach dem Ende der geheimen Zusammenarbeit 1933 fortgesetzt.
Sowjetische Tragödie
Zudem habe die Weimarer Republik im Rüstungsbereich ebenfalls mit anderen Staaten zusammengearbeitet, um die Bestimmungen des Versailler Vertrages zu unterlaufen. Allerdings hätte das ab 1933 faschistische Deutschland ohne die vorherige geheime Rüstungszusammenarbeit mit der Sowjetunion 1939 keine kriegsfähige Wehrmacht gehabt. „Als Hitler an die Macht kam, brauchte er nur auf den Knopf zu drücken“, gab er die Schlussfolgerung einer Studie zum Thema wieder.Seine Fachkollegin Kantor meinte, die Früchte der geheimen Zusammenarbeit seien für beide Seiten wichtig gewesen. Aus russischer Perspektive sei die Tragödie, dass 90 Prozent aller eigenen Teilnehmenden durch die Stalinschen Repressalien ab 1937 aus der Armee entlassen, ins Gulag gesperrt oder getötet worden seien. Die Deutschen hätten das begrüßt, als sie davon erfuhren. Das habe selbst Ingenieure wie den späteren „Vater der sowjetischen Raumfahrt“ Sergej Koroljow und den Flugzeugkonstrukteur Andrej Tupolew getroffen.
Gehorsame Soldaten
Einige von ihnen seien kurz vor und nach dem faschistischen Überfall 1941, wieder reaktiviert worden. Als bekanntestes Beispiel nannte Historiker Zeidler Marschall Konstantin Rokossowski, Befehlshaber in der Schlacht von Moskau 1941 sowie siegreicher Befehlshaber in Stalingrad und bei Kursk 1943. Zu den Überlebenden aus der geheimen Zusammenarbeit habe Marschall Semjon Timoschenko gehört, ab 1940 sowjetischer Volkskommissar für Verteidigung.
Historiker Zeidler wusste auf Sputnik-Nachfrage keinen der an der geheimen Zusammenarbeit und Ausbildung beteiligten deutschen Offiziere zu nennen, die sich geweigert hätten, die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zu überfallen. „Soldaten haben gelernt zu gehorchen. Wenn der Befehl heißt ‚Freundschaft‘, dann wird auf Freundschaft gemacht. Wenn der Befehl andersrum geht, dann eben andersrum.“ Das sei nach der kurzzeitigen erneuten deutsch-sowjetischen Kooperation 1939/40 „noch krasser“ gewesen.
Historikerin Kantor hatte zuvor auf die engen menschlichen Kontakte zwischen den deutschen und sowjet-russischen Beteiligten an der Zusammenarbeit von 1920 bis 1933 hingewiesen. Sie gab einen späteren Witz der deutschen Luftwaffe im Krieg gegen die Sowjetunion wieder: Danach sollten bestimmte Gebiete wie das bei Lipezk lieber nicht bombardiert werden – wegen der vielen eigenen Kinder dort …
Das komplette Interview mit Historiker Manfred Zeidler zum Nachhören:
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