Anknüpfungspunkte dafür sind die Mitte September vom Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker gehaltene Grundsatzrede zur Zukunft der EU, die Europa-Rede des französische Präsidenten Emmanuel Macron und diejenige des Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk. Deutsche Spitzenpolitiker hatten derweil lange geschwiegen.
«Vereinigte Staaten von Europa»?
Aber nun hat sich auch der geschäftsführende deutschen Außenminister Sigmar Gabriel mit einer sehr deutlichen Forderung nach einer eigenständigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu Wort gemeldet. Die deutschen Grünen waren sowieso schon immer dafür. Das bekräftigte der grüne EU-Parlamentarier Jan Philipp Albrecht in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 11. Dezember 2017. Auch der Parteivorsitzende der SPD Martin Schulz wollte mit seiner Forderung nach «Vereinigten Staaten für Europa» bis 2025, einem dazugehörigen Verfassungsvertrag und einer harten Linie gegen diejenigen in der EU, die dies nicht so wollen, nicht zurückstehen. Seine Forderung soll Kernbestandteil der Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU sein. Das wird auch Frau Merkel nicht unrecht sein, auch wenn sie sich selbst bislang zum Thema bedeckt gehalten hat. Aber ihr Parteikollege und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, schloss sich dem Ruf nach mehr EU in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (6. Dezember 2017) an. Dass die deutsche Stadt Aachen ihren renommierten Karlspreis für das Jahr 2018 dem französischen Präsidenten «für seine Vision von einem neuen Europa und der Neugründung des europäischen Projektes» verlieh und dass am 11. Dezember 2017 nach den Verteidigungsministern nun auch die Außenminister von 25 EU-Staaten die Gründung einer Europäischen Verteidigungsunion beschlossen, rundet das Bild ab.Aber was ist davon zu halten?
Erinnerung an den US-Agenten Jean Monnet
Spontan erinnert man sich an die strategischen Überlegungen des US-Agenten Jean Monnet, dem «Wegbereiter der europäischen Einigungsbestrebungen» (Wikipedia), der schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts «Krisen» für notwendig befand, um die «europäische Einigung» Schritt für Schritt voranzubringen.
Beigegeben wurde der Mythos vom «Friedensprojekt».
Der Mythos vom «Friedensprojekt»
Aber dieser Mythos hält keiner Prüfung stand. Schon Churchills Zürcher Rede vom September 1946 stand im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges und geostrategischer Überlegungen. Dieser Krieg war nicht nur «kalt», sondern hatte Millionen von Opfern: in Südamerika, in Afrika, in Asien (allein in Korea und Indochina mehrere Millionen) … auch in den USA selbst und auch in Europa. Hinzu kommt der berühmt gewordene Satz des ersten Nato-Generalsekretärs und britischen Barons Hasting Lionel Ismay zum Zweck der Nato in Europa: «to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down». Auch Jean Monnets Vorschlag für eine supranationale Behörde zur Kontrolle der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion, nach dem sich 1951 die Montanunion mit den 6 Gründungsmitgliedern der späteren EWG bildete, diente vor allem der Kontrolle der westdeutschen Kohle- und Stahlindustrie und war Ausdruck des Misstrauens gegenüber der jungen Bundesrepublik.
Sigmar Gabriels Feindbild und Kriegsrhetorik
Sehr gut dazu passt der Kommentar der bedeutenden «Süddeutschen Zeitung» vom 11. Dezember 2017 zur Initiative von Martin Schulz: «Jetzt hat Martin Schulz Europa endlich ins Zentrum der Koalitionsverhandlungen gestellt. Er fordert, bis 2025 die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, notfalls auch ohne solche EU-Länder, die in Wahrheit gegen Europa arbeiten. Der Zeitrahmen des SPD-Vorsitzenden ist unrealistisch. Doch sein Ziel ist richtig. Denn nur ein europäischer Bundesstaat kann erreichen, dass Franzosen, Deutsche, Polen oder Portugiesen ihre Souveränität gegenüber Trump, China oder Amazon bewahren. Emmanuel Macron streckt seit Monaten die Hand Richtung Deutschland aus. Irgendwann wird es zu spät sein, sie zu ergreifen.» Also, los!
Wiederbelebung der Vorkriegspolitik
Fragen im Geschichtsunterricht
In meinem Geschichtsunterricht gab es eine aufschlussreiche Diskussion. Auf meine Frage, ob es denn sinnvoll sei, heutzutage einen Film über die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden in den Jahren 1933 bis 1945 zu zeigen, antwortete ein Schüler, dies sei doch sehr wichtig. Jeder müsse wissen, was damals passiert ist – um solche Verbrechen künftig zu verhindern. Eine Schülerin entgegnete, jeder wisse doch genau, was damals passiert ist – und trotzdem würden derartige Verbrechen wieder und wieder begangen. Die hieran anknüpfende Frage, ob sich junge Menschen heute für eine bessere Welt einsetzen möchten, beantwortete ein dritter Schüler, ein junger Mann, der sehr an geschichtlichen und politischen Fragen interessiert ist, mit «eigentlich schon» – aber es fehle einem die Richtung. Ich nickte: Bei der Suche danach brauche jeder junge Mensch Unterstützung.
Ein Todesstoß für die Demokratie
Kasten:
Gabriels außenpolitischer Wegweiser: Weniger Recht, dafür mehr Macht
«Nur wenn die EU ihre eigenen Interessen definiert und ihre Macht projiziert, kann sie überleben. Die heute noch fehlende Machtprojektion der Europäischen Union hat jedenfalls dazu geführt, dass überall dort, wo sich die USA tatsächlich oder scheinbar zurückgezogen haben, keine Hinwendung zu Europa erfolgt ist, sondern zu anderen Staaten, von denen operationalisierte Macht weit eher erwartet wird: im Nahen Osten z.B. zu Russland und in Afrika zu China. Wir erleben eben, dass die Konkurrenz nicht schläft. Vor zwei Wochen hat der russische Präsident in Sotschi Hof gehalten. […] Eine deutsche Zeitung schrieb dazu: ‹Schwarze Seelen am Schwarzen Meer.› […] Herfried Münkler hat dieser Tage ein interessantes Buch zum Dreißigjährigen Krieg vorgelegt. Er geht darin scharf mit der außenpolitischen Klasse in Deutschland ins Gericht. Er beklagt eine deutsche ‹Fixierung auf das Recht als Bewältigungsform politischer Herausforderungen›, die fast einer Realitätsverweigerung gleich komme. Man traue sich nicht, schonungslos zu analysieren, was wirklich passiere. Stattdessen, so Münkler, schweife der Blick stets zum ‹Horizont moralischer Normen und Imperative›. Was fehle, sei ‹politisch strategisches Denken›. Ich finde, Münkler legt hier den Finger in die Wunde. […] Wir brauchen einen klaren und realistischen Blick auf die Welt – wie sie eben ist. Und nicht nur eine Vision, wie sie eigentlich sein sollte. Auf dieser Basis und mit einem klaren Wertekompass sollten wir dann beherzt für das kämpfen, was wir bewahren und was wir erreichen wollen. Und zwar ohne überdimensionierte moralische oder normative Scheuklappen – und mit der Bereitschaft zur, wie Münkler schreibt, ‹strategischen Kompromissbildung›.»
Sigmar Gabriel in seiner Rede vor dem «Forum Außenpolitik» am 5.12.2017
* Die Meinung des Autors muss nicht mit dem Standpunkt der Redaktion übereinstimmen.
* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.
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