
Cameron: Der Kapitän geht als Erster von Bord
Kurz nach der Bekanntgabe der Referendumsergebnisse über den Austritt Großbritanniens aus der EU hatte der britische Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt. „Ich denke, es wäre nicht richtig zu versuchen, das Land als Kapitän noch in seine neue Richtung zu steuern“, so Cameron. Dabei wolle er als Premier „sein Bestes geben, um das Schiff noch durch die kommenden Wochen und Monaten zu bringen. Ob der Kapitän insgeheim wohl doch befürchtet, dass das alte Schiff Großbritannien untergehen könnte?

Angstwort „Dominoeffekt“
Während die meisten europäischen Politiker sich vor einer Kettenreaktion geschützt fühlen, scheinen US-Experten das anders zu sehen: Am vergangenen Montag ist der US-Außenminister John Kerry mit der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini in Brüssel und mit dem britischen Außenminister Philip Hammond in London zusammengetroffen, und zwar um einem „Dominoeffekt nach dem Brexit vorzubeugen“, wie ein Sprecher des US-Außenamts einräumte.
Zuvor hatte der österreichische Außenminister Sebastian Kurz vor einem Dominoeffekt gewarnt und dazu aufgerufen, dass die EU sich schnell neu aufstellen solle. Wenn ein großer EU-Mitgliedstaat wie Großbritannien aus der Union austrete, könne „kein Stein auf dem anderen bleiben“, betonte er.
Noch vor dem britischen Volksentscheid mahnte auch das schwedische Außenministerium unter Margot Wallström, dass ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union den Zerfall der EU auslösen könnte, wobei auch ein Verbleib Gefahren in sich berge.

Soros: Wenn das Orakel vom Ende spricht
Der Starinvestor Soros, der in seinem langen Leben bereits mehrere Weltkrisen vorhergesagt hat, sieht die EU-Zukunft eher schwarz: „Jetzt hat sich das katastrophale Szenario, das viele gefürchtet hatten, bewahrheitet und den Zerfall der EU faktisch unumkehrbar gemacht“, betonte er nach dem Referendum. Dies hielt den alten Großinvestor jedoch nicht von seinen alten Tricks ab: Da der Goldpreis wegen des Brexits gestiegen ist, verdiente Soros neulich mit Investitionen in Gold-Aktiva. Man sollte bedenken: Als er dies im Jahr 2007 machte, brach kurz danach die Bankenkrise aus.

Brexit — Ein Geschenk für Separatisten?
Nachdem die Mehrheit der Schotten und Iren für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt hatte, spitzten sich erneut Diskussionen über eine mögliche Unabhängigkeit von London zu. So kündigte die irisch-republikanische Partei "Sinn Fein" an, nach dem Brexit-Referendum verstärkt für einen Austritt Nordirlands aus dem Vereinigten Königreich zu werben.
„Das (der Ausstieg Großbritannien aus der EU — Anm. der Red.) wird bedeuten, dass die Regierung kein Recht mehr hat, die Interessen von Nordirland zu repräsentieren", so der Partei-Chef Declan Kearney.
Die erste Ministerin Schottlands Nicola Sturgeon, sagte jedoch nach dem Brexit-Entscheid, dass ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands „hochwahrscheinlich“ sei.

Problemgebiete Gibraltar und Katalonien
Auch außerhalb des Königreichs sind in einigen EU-Ländern immer häufiger Stimmen für die Durchführung eines Referendums wie in Großbritannien zu hören. So wird vor dem Hintergrund des Brexits in Katalonien erneut über ein notwendiges Referendum zum Ausstritt aus Spanien gesprochen.
Es spitzt sich auch die Situation um Gibraltar zu. Spanien erkennt die Zugehörigkeit dieser Gebiete zu Großbritannien nicht an. Beim Referendum am Donnerstag stimmten die meisten in Gibraltar für den Verbleib in der EU.
„Das ist eine Wende, die neue Perspektiven eröffnet. Der Moment, in dem die spanische Flagge in Gibraltar gehisst wird, ist näher gerückt. Wir müssen versuchen, diese Situation zu nutzen, um das mögliche Maximum zu bekommen“, sagte der spanische Außenminister José Manuel Garcia-Margallo am Freitag.

Hauptstadt eines fremden Landes
Zehntausende Londoner haben nach dem Brexit eine Petition im Internet unterzeichnet, in der Bürgermeister Sadiq Khan aufgefordert wird, die britische Hauptstadt für unabhängig zu erklären. Mehr als 27.000 Menschen haben bis Freitagabend die Petition auf der Online-Plattform change.org unterzeichnet, bevor sie gelöscht wurde. Laut dem Verfasser des Dokuments, James O'Malley, ist London „eine Weltstadt, die ein Zentrum Europas bleiben muss".

Brexit – ein Schlag ins Gesicht der EU- und US-Politiker
Nun muss Obama wohl seine Niederlage eingestehen: Massiv hatte sich der US-Präsident in die Referendumskampagne eingemischt und bei seinem Besuch in Großbritannien im April nachdrücklich für den Verbleib des Landes in der Europäischen Union geworben – vergeblich. Auch der US-Vizepräsident Joe Biden hat nach eigenen Worten auf den Verbleib Großbritanniens in der EU gehofft. „Wir würden ein anderes Ergebnis bevorzugen“, sagte Biden in Irlands Hauptstadt Dublin. Dem Politiker zufolge teilt auch Obama diese Meinung.

Im politischen Berlin ist die Enttäuschung über den bevorstehenden Brexit ebenfalls groß. „Mit großem Bedauern“ nehme sie die Entscheidung der Briten zur Kenntnis, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Freitag. „Der heutige Tag ist ein Einschnitt für Europa und den europäischen Einigungsprozess“, betonte sie.

In einer Regierungserklärung sagte Merkel zudem, dass es keine Verhandlungen „nach dem Prinzip der Rosinenpickerei“ geben werde. Wer aus der EU-Familie austrete, könne nicht erwarten, „dass die Pflichten entfallen, die Privilegien aber bestehen bleiben".

Auch Bundespräsident Joachim Gauck teilte mit, dass der Respekt vor der Entscheidung der Briten mit „tiefer Traurigkeit“ verbunden sei.
„Das ist die größte Katastrophe in der Geschichte der europäischen Integration“, erklärte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Justizminister Heiko Maas sprach von einem "schwarzen Freitag für Europa".

„Damn! Ein schlechter Tag für Europa" — so hatte sich Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) schon früh am Morgen nach dem Brexit zu Wort gemeldet. „Europa muss wieder Kurs auf seine Bürger nehmen“, forderte er.
Großbritannien hatte am Donnerstag beim Referendum zur EU-Mitgliedschaft mit 51,9 Prozent der Stimmen für den Austritt aus der EU votiert.
Die EU-Führung besteht nun darauf, dass London baldigst das Austrittsverfahren einleitet. Premierminister David Cameron zufolge wird dieser Prozess frühestens im September und schon ohne ihn beginnen.
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