Tobias Meilicke ist zertifizierter Anti-Gewalt- sowie Deeskalationstrainer und berät in Kiel radikalisierte Jugendliche und deren Angehörige. „Junge Frauen finden in der islamistischen Szene Anerkennung, Geborgenheit, eine Gemeinschaft und vor allem eine Aufgabe“, sagte der Projektleiter von „PROvention“, der Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus in Schleswig-Holstein, in einem Sputnik-Interview.
Romantisches Zerrbild vom Nahen Osten
„Die Frauen und Mädchen bekommen eine Aufgabe, indem sie für die unterdrückten Muslime kämpfen, auch für ihre muslimischen Schwestern im Nahen Osten“, so der Politik- und Islamwissenschaftler weiter. „Zusätzlich erleben diese Mädchen Ausgrenzung in Deutschland. Sie verschleiern sich, werden angefeindet. Zusätzlich treibt sie eine romantische Vorstellung des islamischen Lebens an. Es sind meist Frauen, die sich nach einem konservativen Familienbild sehnen und die klassische Frauenrolle leben wollen. Für solch eine Einstellung ernten sie in Deutschland Kritik.“ All dies seien Faktoren, die junge deutsche Frauen dazu bewegen, sich dem IS anzuschließen. Birgit Ebel ist Lehrerin und Gründerin der privaten Anti-Radikalisierungs-Initiative „extrem dagegen!“ in Herford, die junge Frauen berät. „Bei diesen ist es offensichtlich, dass sie in einer Art von Krise sind, desorientiert, oft wachsen sie in haltlosen Familien auf“, sagte sie im Sputnik-Gespräch. „Ganz häufig haben sie zu strenge Eltern oder solche, die sich nicht kümmern oder durch eine Krankheit gebeutelt sind. Es sind Scheidungskinder darunter. Die suchen dann eine neue Gemeinschaft. Etwas Neues, eine neue Familie. Oder es ist wirklicher Protest. Dann trifft all das auf den Nährboden der radikalen Salafisten. Die jungen Mädchen haben letztlich eine romantische Vorstellung vom Islamischen Staat.“Methoden der IS-Rekrutierung
„Viel läuft natürlich über junge Männer, die bereits radikalisiert sind“, so die Pädagogin. „Die Männer wissen, dass die Mädchen ganz schnell heiraten wollen und bringen die Frauen dann über Versprechungen und Beeinflussungen eben auf diese Spur.“ Meilicke unterstrich das: „Prinzipiell wissen wir aus vielen Fällen, die wir betreut haben, dass es zu einer Radikalisierung immer einer persönlichen Ansprache bedarf. Wir haben ganz wenige Fälle, die sich allein über Internet radikalisiert haben. Auch wenn das Internet für die IS-Propaganda eine enorm wichtige Rolle spielt.“ Aber häufig sei der persönliche Kontakt des Mädchens mit einem jungen Islamisten der Ausgangspunkt für die spätere Radikalisierung. „Es gibt direkte Ansprachen von gutaussehenden, arabischen, aber auch deutschstämmigen jungen Männern an die Mädchen, die sie letztendlich in den Nahen Osten locken.“ Auch für Ebel sei der Fall von Linda W., die sich laut Aussagen von Eltern und Bekannten rein über Internet-Kontakte zur Islamistin radikalisiert habe, ein Einzelfall. „Hier hat etwas stattgefunden, was gerne auf andere Situationen übertragen wird, aber so nicht stimmt“, kommentiert die Lehrerin. „Die Behauptung, dass bei Linda die Anwerbung vollständig und ganz ausschließlich über das Internet erfolgt ist. Das kann ich aufgrund meiner Arbeit sagen, das stimmt einfach nicht.“ Die Rekrutierung finde laut ihr in erster Linie über direkte, persönliche Ansprache statt.IS-Propaganda: Waffen und Katzen-Babys
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Unterdrückung, Sexobjekt, Zwangsheirat
„Wir haben viele erschütternde Frauenschicksale erlebt im Rahmen unserer Arbeit“, erklärte Präventionshelfer Meilicke. „Die haben das Furchtbarste erlebt, was wir uns vorstellen können. Sie sind mit einer großen Naivität in den Nahen Osten gegangen, sind dort unten mehrfach verheiratet worden, sind als Sexobjekte vergewaltigt worden, mussten viele Kinder zur Welt bringen, haben teilweise ihre Neugeborenen in den Kriegswirren verloren.“ Auf der anderen Seite gebe es auch Frauen, die sich sehr gut mit dem System arrangiert haben. „Die auch selber aktiv werden wollen, vor allem im Bereich der IS-Propaganda. Wir wissen von einigen Frauen, die angekündigt haben, auch zu kämpfen. Das ist aber alles undurchsichtig und muss je nach Fall immer individuell betrachtet werden.“Alexander Boos
Das komplette Interview mit Tobias Meilicke zum Nachhören:
Das komplette Interview mit Birgit Ebel zum Nachhören:
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