„Es ist nicht mehr zu erkennen, wozu die Sozialdemokratie neben den anderen Parteien gebraucht wird“, bemängelt Prof. Dr. Nils Diederich, Politologe und langjähriges SPD-Mitglied im Sputnik-Interview. Zwar hätte die SPD in der Großen Koalition gute Arbeit geleistet, „aber sie hat ihren Anspruch aufgegeben, die große Alternative zur CDU/CSU zu sein“.
Die Ursachen für die Pleite bei der EU-Wahl seien in den letzten 15 Jahren GroKo zu finden: „Die Sozialdemokratie hat sich in der Großen Koalition verschlissen. Das ist der Tiefpunkt, den wir erreichen. Die SPD habe zu keinem Zeitpunkt die Wähler überzeugen können, dass sie als Alternative für die CDU taugt“, betont Diederich.
„Griff in die Mottenkiste“
Nun hat der linke Flügel der Partei mit dem Vorsitzenden der Jugendorganisation Jusos, Kevin Kühnert, den SPD-Spitzenpolitikern Ralf Stegner und Matthias Miersch am Dienstag ein Arbeitspapier vorgelegt. Das berichtete „Spiegel-Online“, dem das Papier vorliegt. Dort fordern sie einen „neuen strikten Kurs“ und „Anregung einer Kapitalismusdebatte“. Für die Arbeit in der GroKo bedeute dies: „Eine SPD ohne Angst – weder als unterwürfiger Juniorpartner noch als Opposition in der Regierung, sondern als linkes Gegengewicht mit der Perspektive fortschrittlicher Bündnisse nach dem Ende dieser Koalition.“
Das seien zwar alles schöne Worte, meint der Politologe im Sputnik-Interview. Ob die „Rezepte“, die der linke Parteienflügel hier vorlegt, die richtigen sind, bezweifelt der Forscher. So sei die Verstaatlichungsdebatte, die Kühnert angestoßen hat, ein Griff in die „Mottenkiste“, bemerkt der Politikwissenschaftler und fordert echte Reformen.Die könne man nicht durchführen, in dem man etwas für einige soziale Gruppen tue. Dabei nennt Diederich als Beispiel die sogenannte Grundrente von Arbeitsminister Hubertus Heil. „Das sind immer nur relativ kleine Gruppen der Gesellschaft. Das ändert aber die Verteilungsprobleme bei ihrer Entstehung in Deutschland nicht.“
Diederichs Rezepte für eine Neuaufstellung der SPD:
Um seine Partei wieder in den Umfragen nach oben zu bringen, schlägt der Parteienforscher und Sozialdemokrat konkrete Punkte vor: „Größere Besteuerung des Spitzeneinkommens, Verhinderung der Vermögenskumulation, bei wenigen eine stärkere Kontrolle der Finanzmärkte im Hinblick auf die flottierenden Milliarden, die dort hin und her geschoben werden sowie eine Erbschaftssteuerreform.“ Zur „Entstehung von Verteilungsproblemen“ gehöre auch, dass man sehr viel stärker die Infrastrukturaufgaben ins Auge fassen müsse.
Doch zunächst müsse die SPD „glaubwürdig“ die Große Koalition beenden, findet der der emeritierte Professor. „Sie hat es ja schon vor der letzten Wahl verkündet und ihre eigene Ankündigung gebrochen. Sie hat damit das Vertrauen der Wähler verloren. Sie versuchen, das glaubhaft wiederherzustellen. Das kann sie aber nicht, in dem sie die Große Koalition bis zum bitteren Ende weiterhin durchführt.“
„Schuld nicht bei Nahles allein“
Nach dem Wahl-Desaster will sich Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles am Montag in der Fraktion vorzeitig zur Neuwahl stellen. Die Schuld sieht Diederich jedoch nicht bei Nahles allein: „Die ganze Partei hat der Großen Koalition mit einer Zweidrittelmehrheit zugestimmt.“ Somit spiele es gar keine Rolle, ob Nahles wiedergewählt werde oder jemand anderes.
Vor anderthalb Jahrhunderten sei die SPD angetreten, um der Arbeiterklasse einen angemessenen Platz in dieser Gesellschaft zu verschaffen, erinnert der Parteienforscher: „Heute haben wir ein völlig anderes Szenario. Wir haben eine junge Generation, die für Klimaziele demonstriert, die aber gleichwohl in einer überbordenden Konsumgesellschaft lebt. Ich habe fünf Enkel. Ich sehe, dass sie in einer komplett anderen Kategorie denken, als wir es in ihrem Alter getan haben. Darauf muss sich die Sozialdemokratie einstellen. Sie muss überlegen, haben wir noch überhaupt einen Platz im Spektrum dieser Parteien. Oder haben wir unsere Aufgabe als soziale Reformpartei im Moment erfüllt?“Der Politikwissenschaftler bekommt Unterstützung von Anhängern der SPD: Rund 57 Prozent der SPD-Wähler gaben in einer „Spiegel Online“-Umfrage an, ein Bruch der Koalition würde der Partei nutzen. Eine Aufkündigung der GroKo werten rund 27 Prozent als schädlich für die Sozialdemokraten.
Interview mit Prof. Dr. Nils Diederich:
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