Sammeln und Bearbeiten von Zieldaten, Weitergeben der Koordinaten an die Raketen-Steuerzentrale und das Starten selbst – das alles dauert nur wenige Minuten. Die Schiffe feuern ihre „Kalibr“-Marschflugkörper quasi aus dem Stegreif ab – fast nach dem Prinzip „aus den Augen – aus dem Sinn“.
Nachdem eine Rakete abgefeuert worden ist, fliegt sie zu ihrem Opfer nach ihrem eigenen Szenario. Das Opfer hat nahezu keine Chance, dem Angriff zu entkommen.
Um zu verstehen, wie Russlands wichtigster Marschflugkörper funktioniert, hat sich ein Korrespondent von RIA Novosti nach Sewastopol begeben – und von dort aus auf hohe See mit einem Schiffsverband der Schwarzmeerflotte.
Die Kabine Nr. 6
Aus Sicherheitsgründen verzögerte das Verteidigungsministerium bis zum letzten Moment die Mitteilung über den Beginn der im Schwarzen Meer geplanten Schießübungen. Wir wussten zwar ungefähr, wann es los geht und mit welchem Schiff. Aber wie lange der Übungseinsatz dauern wird und wohin es eigentlich geht, blieb unbekannt.
Einige Stunden später, fast gleich nach Sonnenuntergang, verließ das Schiff den Hafen. Auf die Fragen, was das für eine Übung sein sollte, wollten die Seeleute nicht antworten und scherzten nur.
„Wird dabei überhaupt geschossen? Wohin geht’s los? Wer soll versenkt werden?“, ließen die Reporter nicht locker. Die typische Antwort darauf lautete: „Haben Sie ein wenig Geduld, dann werden Sie alles mit Ihren eigenen Augen sehen.“
Andererseits war das Verhalten der Marine nachvollziehbar: Denn falls Informationen über die Übung ins Internet durchsickern würden, könnten die potenziellen Gegner ihre Spitzel hinschicken, um herauszufinden, um was für Raketen es sich bei der Übung handelte, ihre Flugbahnen analysieren, ihre technischen Daten messen usw.
Nach dem Aufbruch begab sich unser Schiff nach rechts und ging nach Norden, die Krim-Küste entlang.

Wir Reporter wurden in Vierbett-Kabinen untergebracht und mit dem typischen Seemanns-Abendessen versorgt: Kartoffelbrei mit Schmorfisch, süßer Tee, Butterbrot. Dann durften wir uns bis zum frühen Morgen erholen.
Die Kabinen an Bord eines kleinen Raketenschiffs des Projekts 21631 sind durchaus komfortabel und ähneln im Grunde einem Wagenabteil, sie sind allerdings etwas größer. In einer solchen Kabine gibt es vier Betten, ein Handwaschbecken, einen Arbeitstisch und vier Kleiderschränke. Die unteren Betten können in Sofas transformiert werden. Eine Klimaanlage gibt es auch. Es ist durchaus bequem hier.

Gegen Mitternacht wurde es plötzlich still – die Triebwerke waren nicht mehr zu hören, auch die Vibration verschwand auf einmal: Die „Orechowo-Sujewo“ brasste auf. „Wir warten wohl auf jemanden“, vermutete ein Kollege. Und er hatte Recht. Früh am Morgen tauchte am Horizont ein anderes Schiff auf, und zwar die „Wyschni Wolotschok“, ein kleines Raketenschiff desselben Typs.

Weiter fuhren beide Schiffe praktisch zusammen – die „Wyschni Wolotschok“ blieb rechts und etwa anderthalb bis zwei Seemeilen hinter der „Orechowo-Sujewo“. Später erfuhren wir, dass gerade dieses Schiff Marschflugkörper abfeuern sollte. „Unser“ Schiff sollte dabei die Beobachterrolle übernehmen. Man muss sagen, dass die kleinen Raketenschiffe des Typs „Bujan-M“, deren Verdrängung mit 941 Tonnen relativ gering ist, nicht nur in küstennahen Gewässern effizient sind.
Übrigens haben gerade die russischen „Bujan“-Schiffe im Oktober 2015 einen aufsehenerregenden Raketenschlag aus dem Kaspischen Meer gegen IS-Stellungen in Syrien versetzt. Die abfeuerten Raketen flogen damals über das Territorium gleich mehrerer Länder hinweg und haben ihre Ziele nahezu tadellos getroffen. Westliche Experten nannten diese Schiffe „die neue Moskito-Flotte“ Russlands, die imstande wäre, die Bewegungsfreiheit der USA bzw. der Nato wesentlich zu beschränken.

Das Ziel hinter dem Horizont
Am nächsten Morgen, um 08.00 Uhr, bekamen wir Journalisten nach einem deftigen Frühstück (Haferbrei, Omelett mit Wurst, Kaffee, Butter- und Käsebrot) endlich die Pressemitteilung des Verteidigungsministeriums, aus der wir erfuhren, dass die Schießübung für 10.00 Uhr geplant ist. Es sollten „Kalibr“-Marschflugkörper abgefeuert werden. Doch diese Informationen waren streng vertraulich. Kurz vor der „Stunde X“ stellten die Fernsehleute von den Sendern „Swesda“ und „Rossija-1“ ihre Kameras auf dem oberen Deckaufbau auf.
Aber sie durften sich nur ganz kurz freuen. Als der Kapitän die TV-Teams sah, befahl er der Besatzung, sie sofort wegzuschicken, „um unangenehme Zwischenfälle zu vermeiden“. Außerdem wurde bekannt, dass die „Orechowo-Sujewo“ die Flugbahnen der abgefeuerten Raketen beobachten würde, so dass alle Radaranlagen an Bord mit voller Stärke eingeschaltet werden sollten. Also sollten sich die Fernsehleute möglichst fern halten, um nicht bestrahlt zu werden.

Also mussten sich die Kameraleute auf die untere Ebene begeben. Die „Wyschni Wolotschok“ ging parallel zur „Orechowo-Sujewo“, anderthalb Meilen entfernt. Der erste „Kalibr“-Marschflugkörper wurde exakt um 10.00 Uhr abgefeuert. Gleich nach dem Start flog er senkrecht in die Luft, machte eine Parabel und verschwand blitzschnell irgendwo im Südwesten.

Dort, auf hoher See, etwa 40 Meilen weg von uns, befand sich ein riesiger Zielschild, der eine gegnerische Fregatte quasi verkörperte. Diese wurde sehr genau imitiert: Sie hatte beispielsweise Winkelreflektoren, so dass die Attrappe auf dem Radarbildschirm wie ein richtiges Schiff aussah. In der letzten Flugphase öffnet sich der Raketensprengkopf, und er richtet sich danach nach dem Funksignalecho. Und wenn der Sprengkopf das Ziel erfasst hat, kann er schon nicht mehr vom Kurs abkommen.
Quellen der Zielanweisung können sowohl eigene Ortungsmittel des Schiffs als auch äußere Mittel sein – andere Schiffe, Flugzeuge, Drohnen, Küstenanlagen. Der Kommandeur wählt das Ziel und gibt den Start frei. Nach dem Verlassen des Verkehrs- und Startcontainers fliegt die Rakete nach einem eigenen Programm ohne Verbindung zum Schiff.
„Der Begriff Treffen des Ziels über dem Wasser besteht aus sehr vielen Elementen“, sagt der Kommandeur des Raketenschiffs Orechowo-Sujewo, Alexej Orljapow, der früher Raketenboote leitete. „ Dazu gehören die Erfahrungen beim Einsatz von Raketenwaffen und eine effiziente Anwendung, die Fluggeschwindigkeit, die Zahl der Raketen. Der Angriff kann sowohl punktuell, gegen ein einzelnes Ziel oder gegen eine Gruppe von Überwasserschiffen erfolgen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es eine Landungseinheit oder eine Angriffsgruppe ist“.
Laut dem Programm der Übung ist die Fregatte kein einzelnes feindliches Schiff, das zufällig ins Schwarze Meer gelangte. Zur Küste der Krim bewegt sich zielstrebig eine mächtig Angriffsgruppierung, die bereit ist, Infrastrukturobjekte der Halbinsel anzugreifen und ihre Wirtschaft zu zerstören. Die Aufgabe der Besatzung der „Orechowo-Sujewo“ und „Wyschni Wolotschok“ ist äußerst einfach – dieses Vorhaben untergraben und die Gruppierung vernichten, ohne darauf zu warten, bis fremde Raketen in Richtung der Krim-Küste fliegen.
Eine Kalibr-Rakete erreicht das Ziel in wenigen Minuten. Der Gefechtskopf ist fast mit 0,5 Tonnen Sprengstoff TNT bestückt. Bei einem erfolgreichen Treffer reicht das aus, um jedes Schiff zu versenken. Diesmal wurde das Ziel exakt getroffen – Drohnen stellten die Zerstörung des Ziels fest. Die Hauptaufgabe wurde erfüllt – die „Fregatte“ wurde versenkt, die gegnerische Angriffsgruppe musste fliehen.

„Das ist der erste Start einer Kalibr-Rakete vom Schiff „Wyschni Wolotschok“, sagt der Kommandeur der Division der Raketenschiffe, Kapitän 2. Ranges, Oleg Sardin. Es wurde die seegestützte Version verwendet, der Beschuss des Überwasserschiffes erfolgte unter kampfnahen Bedingungen. Die Zielanweisung wurde aus Daten von äußeren Quellen gespeist. Ein guter Raketenkomplex, gute Treffer, alles verlief reibungslos. Unter guten Umständen kann ein solcher Raketenkomplex zwei Zerstörer außer Gefecht setzen.
Krim-Grenze
Laut Orljapow steht der Kommandeur nach dem Abfeuern aller Raketen immer vor der Wahl: zum Stützpunkt zur Neubeladung fahren oder ein Artillerieduell mit dem Gegner beginnen. Das hängt von der Aufgabe ab. Das Raketenschiff verfügt über eine 100-mm-Anlage A190 Universal, die bis zu 80 Schuss pro Minute auf einer Entfernung bis 20 km abfeuern kann.

Für den Nahkampf eignet sich die 30-mm-Anlage Duet am Heck. Zwei Sechs-Rohr-Kanonen (Gatling-Waffen) geben bis zu 10.000 Schuss pro Minute ab und werden in der Flotte „Metallschneider“ genannt.
Allerdings der effektvolle Angriff der „Wyschni Wolotschok“ nur eine Episode der großangelegten Übungen der Schwarzmeerflotte, die Mitte August begannen. An den Übungen nahmen mehr als 8000 Militärs, 200 Einheiten Technik, 30 Flugzeuge und Hubschrauber sowie zehn Schiffe und Versorgungsschiffe teil.

Die Größe des Übungsgebiets ist beeindruckend – dabei handelt es sich um sechs Gelände zur Kampfvorbereitung auf der Krim, in der Region Krasnodar, dem Gebiet Rostow und die Marinestützpunkte Krim und Noworossijsk, Küstentruppen und Fliegerkräfte der Flotte.
Laut Mitteilung der 6. Flotte der USA ist der Zerstörer “Porter” mit lenkbaren Raketenwaffen derzeit auf dem Weg ins Schwarze Meer. Das erklärte Ziel dieser Operation: Unterstützung der regionalen Stabilität. Für die US-Schiffe ist das bereits der sechste Besuch im Schwarzen Meer seit Jahresbeginn. Im Juli hielt sich der Zerstörer “Carney”, der an den amerikanisch-ukrainischen Übungen Sea Breeze teilnahm, dort auf.
Die US-Seite sichert zwar zu, dass ihre Schiffe im Schwarzen Meer gemäß der Montreux-Konvention vorgehen und ausschließlich friedliche Missionen erfüllen, doch die Zeit und die objektiven Angaben der russischen Aufklärung werden zeigen, inwieweit die offiziellen Ziele den verkündeten entsprechen.
Inzwischen analysiert die „Wyschni Wolotschok“ nach dem erfolgreichen Schießen die durchgeführten Aktionen, und die „Orechowo-Sujewo“ nimmt in voller Fahrt Kurs auf Sewastopol. Mit einer Geschwindigkeit von 25 Knoten verwandelt sich das Wasser hinter dem Schiff in einen riesigen Schaumtrichter.
Manchmal schwimmen Delfine dem Schiff hinterher - die Ehreneskorte der Schwarzmeerflotte, die uns bis zum Stützpunkt begleitete.
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