Schätzungen zufolge bringt das Forum 3000 Teilnehmer aus über 100 Ländern zusammen. Unter anderem wohnen zahlreiche Staatsoberhäupter und prominente Wirtschaftsvertreter dem Forum bei.
Das Thema des diesjährigen Treffens ist Globalisierung 4.0: Gestaltung einer globalen Architektur im Zeitalter der vierten industriellen Revolution.
Das WEF 2019 wird vom 22. Bis zum 25. Januar ausgetragen.
Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Rede gehalten. Darin bekräftigte sie, die bisherige multilaterale Sicherheitsarchitektur verteidigen und am Gasimport aus Russland festhalten zu wollen. Zugleich appellierte sie an die EU-Staaten, der erpresserischen Sanktionspolitik der USA nur vereint entgegenzutreten.
Angela Merkel ist nicht die beste Rednerin, und damit ist man noch sehr höflich. Doch sie weiß das. Man kann ihr zu Gute halten, dass sie einfach nicht eitel genug ist, dieses Manko durch professionellen Sprechunterricht wenigstens etwas abzumildern. Sie vertraut anderen Qualitäten: ihrem beeindruckenden Gedächtnis, ihrer wissenschaftlichen Logik, ihrer Schlagfertigkeit und ihrem trockenen Humor.
Aber vor allem vertraut sie der in den zurückliegenden Jahren gesammelten Erfahrung, dass sehr viele Bundesbürgerinnen und Bundesbürger gar nicht von ihr erwarten, dass sie wie eine weibliche Version von Franz Josef Strauss oder Herbert Wehner rüberkommt. Ihr größtes Pfund ist ihre hinter einem Sphinx-Lächeln verborgene stoische Beharrlichkeit, die schon so manchen männlichen Politprofi zur Verzweiflung brachte, weil er diese Politikerin schlichtweg in ihrem Machtwillen unterschätzte, der dem von Magret Thatcher in nichts nachsteht, aber weniger arrogant und amazonenhaft wirkt.
Merkel leistet Widerstand gegen USA, formuliert aber unverfänglich
Merkels Rede war wie gewohnt unprätentiös im Stil. Wenn Sie der Welt mitteilen will, dass sie nicht gewillt ist, einem irrlichternden US-Präsidenten und dessen Abgesandten zu gehorchen, dann fallen eher harmlose Glaubensbekenntnisse wie: „Ich glaube, es gibt viele, die willens sind, die multilaterale Ordnung zu stärken“ oder „Ich glaube, es lohnt sich, Gleichgesonnene auf der Welt zusammenzubringen, weil alles andere uns ins Elend führen wird.“ Nur wer je erlebt hat, wie Angela Merkel selbst stundenlange Nachtsitzungen ohne erkennbare Schwäche absolviert und dabei mit geradezu boshafter Hartnäckigkeit immer und immer wieder bestimmte Punkte und Positionen aufruft, während ihre Kontrahenten nur mühsam die Augen offenhalten können, nur wer sie als Politikerin tatsächlich kennt, versteht die Subbotschaft solcher Sätze und ihren Adressaten. Sie wird erst nach- oder aufgeben, wenn es sich wirklich nicht mehr vermeiden lässt. Bis dahin will sie offenbar die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewohnte, einigermaßen ausbalancierte Architektur der internationalen Beziehungen und Organisationen verteidigen.
„Wenn man in die Geschichte der Menschheit schaut, dann liegen die Grundentscheidungen für unsere heutige Ordnung jetzt etwa 74 Jahre zurück. Das ist sozusagen ein Menschenalter. Und wir müssen aufpassen, dass die Menschen, die unmittelbar nach dem Ende des Schreckens des Zweiten Weltkrieges gehandelt haben, dass deren Wissen und deren Einsichten heute von uns nicht einfach entweder achtlos oder eben unaufmerksam weggewischt werden. Denn damals hat man, wie ich finde, die richtigen Schlussfolgerungen gezogen und zum Beispiel die Vereinten Nationen gegründet.“
Merkel gegen Rückzug aus Multilateralismus, weil sich Westen so Einflussmöglichkeiten beraubt
Merkel räumte in ihrer Rede ein, dass internationale Organisationen wie beispielsweise die Uno Reformbedarf haben. Aber ihre Analyse basiert auf der nüchternen Erkenntnis, dass sich die Kräfteverhältnisse verändert haben und die Zertrümmerung supranationaler Organisationen daran nichts ändern wird, sondern ganz im Gegenteil die Chancen der westlichen Welt minimiert, Einfluss auf eine Neuordnung des internationalen Beziehungsgeflechts zu nehmen.
„Wenn wir uns anschauen, dass neben dem etablierten G20-Format, neben der Weltbank jetzt eine Asiatische Investitionsbank da ist, neben dem G20-Format eine Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, in der China, Indien, Russland und andere Länder dabei sind; wenn China sich ein 16+1-Format sucht, um mit Teilen der Europäischen Union zusammenzuarbeiten, dann ist das, wie ich finde, ein Warnschuss, dass wir der Fragmentierung in der internationalen Architektur dadurch entgegenwirken, dass wir bereit sind, die bestehenden Institutionen auch so zu reformieren, dass sie die Kräfteverhältnisse auf der Welt wieder real widerspiegeln. Wenn es darum geht, bestehende Institutionen, die globale Leitplanken setzen, auch zu reformieren, dann müssen wir dabei sein und dann müssen wir die Kräfteverhältnisse akzeptieren.“
Merkel nicht gegen russisches Erdgas, aber auch offen für andere Lieferanten
Angela Merkel bekannte sich in ihrer Rede zur so genannten Verantwortungsethik des Philosophen Max Weber, der die Politiker ermahnte, dass ein Kompromiss das Ergebnis verantwortlichen Handelns eines Politikers sei und nicht das Gegenteil. Nun sind Worte und Taten zwei verschiedene Dinge. Die Kompromissbereitschaft der Bundeskanzlerin im Hinblick auf ihre Politik gegenüber Russland ließe Max Weber wohl die Stirn runzeln. Aber immerhin machte Merkel auf ihre eigene Art und Weise eine dann doch ziemlich klare Ansage. Im Hinblick auf die mehr oder weniger schamlosen Erpressungsversuche der USA, das deutsch-russische Gas-Pipeline-Projekt Nord Stream 2 zu beenden, schlüpfte sie in die Rolle der nüchternen Wissenschaftlerin, die daran erinnerte, dass Deutschland auf zwei Energieträger gleichzeitig verzichten will, die grundlastfähig sind, wie die Experten das nennen, nämlich Steinkohle und Atomstrom. Da auch die Braunkohle als nicht mehr durchsetzungsfähig gilt, bleibt für eine stabile Grundversorgung Deutschlands nur Erdgas. Wegen der schwindenden Reserven in der Nordsee sind die Alternativen überschaubar.
„Und deshalb ist auch der Streit, woher wir unser Erdgas beziehen, ein bisschen überzogen. Denn wir werden auf der einen Seite weiter aus Russland Erdgas beziehen, das ist vollkommen klar. Aber wir wollen natürlich auch diversifizieren. Und deshalb werden wir auch Flüssiggas beziehen, und da vielleicht auch von den Vereinigten Staaten von Amerika und von anderen Quellen. Wir bauen also die Infrastruktur in alle Richtungen aus. Aber ich glaube, wir tun gut daran, zu sagen, wenn wir aus der Kohle aussteigen, wenn wir aus der Kernenergie aussteigen, dann müssen wir den Menschen auch ehrlich sagen, dass wir dann auch mehr Erdgas brauchen.“
Merkel will alle Möglichkeiten nutzen, Multilateralismus zu stärken
Merkels Engagement für eine multilaterale Weltordnung, also die mehr oder weniger gleichberechtigte Zusammenarbeit der Staatengemeinschaft in supranationalen Organisationen, auf der Basis von gemeinsam akzeptieren Regeln ist natürlich ein offener Affront gegen die aktuelle Politik der westlichen Führungsmacht. Weshalb sie Davos und ihre dortige Rede auch nutzte, um an Gleichgesinnte zu appellieren, mögliche Verbündete zu ermutigen, gemeinsam nichts unversucht zu lassen, um Washington zu demonstrieren, dass man nicht ohne Widerstand einfach eine über Jahrzehnte bewährte Sicherheitsarchitektur opfern wolle, was zwischen den Zeilen natürlich auch heißt, die westliche Dominanz in den internationalen Organisationen aufzugeben. Merkel hat offenbar eine Strategie der kleinen und auf den ersten Blick abseitigen Schritte, um den Multilateralismus ihrer Lesart zu retten. In Davos gab sie eine Kostprobe davon:
„Am 16. November – ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist – hat in Versailles in Frankreich eine Revolution stattgefunden. Da hat nämlich die Generalkonferenz für Maße und Gewichte stattgefunden. Und mit dieser Konferenz hat das alte Kilo ausgedient, auch das Ampere und andere Einheiten. Sie wurden durch Naturkonstanten definiert. Und das ist in der Welt der Maße und Gewichte eine wirkliche Revolution gewesen. Die Staatengemeinschaft hat sich gemeinsam darauf eingelassen. Ab dem 20. März 2019 werden wir alle grundsätzlichen Einheiten neu definiert haben, und das Ur-Kilo aus dem Jahre 1889 wird nicht mehr schrumpfen, sondern wir werden immer ein ordentliches, definiertes Kilogramm haben. Das sollte uns ermutigen, auch weiter einen reformatorischen Ansatz zu pflegen und den Gedanken der Neuzeit aufzunehmen.“
Merkel, die bislang unbeachtete weiße Ritterin gegen die NSA?
Auch in anderer Hinsicht scheint die deutsche Regierungschefin möglicherweise gewillt, der westlichen Führungsmacht die Stirn zu bieten. Etwa, wenn es um den Schutz der Privatsphäre geht, wie sie in Davos kundtat:
„Wir haben uns von deutscher Seite, als wir die Schwierigkeiten mit dem amerikanischen Nachrichtendienst NSA hatten, schon seit 2014 oder 2013 bemüht, in der Generalversammlung der Vereinten Nationen und auch im UN-Menschenrechtsrat Resolutionen einzubringen, wo wir uns mit der Privatheit von Daten im digitalen Zeitalter befassen. Das ist eine gute Nord-Süd-Kooperation, wie man sagen würde, nämlich Deutschland und Brasilien, zusammen mit Mexiko und Österreich und vielen anderen, versuchen immer klarer, zu definieren, wie wir hier vorankommen, wenngleich ich nicht verhehlen möchte, dass das ein mühseliger Prozess ist.“
Merkel gibt in Flüchtlingspolitik nicht nach
„Wir haben uns jetzt, nach jahrzehntelanger Diskussion, entschieden, in Deutschland ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz zu verabschieden. Das bedeutet auf der anderen Seite natürlich auch, dass wir eine bessere Steuerung der Migration hinbekommen, aber da haben wir auch erhebliche Fortschritte in den letzten Jahren gemacht. Und wir haben erlebt, dass wir nur dann wirklich vorankommen, wenn wir unseren Glauben ablegen, wir könnten uns alleine entwickeln. Wir haben mit dem Syrien-Krieg, mit dem Terrorismus im Irak erlebt, wie Globalisierung zu uns nach Europa und vor allen Dingen auch nach Deutschland kommt, in Form der vielen Flüchtlinge.“
Merkel hat offenbar ihr Herz für Afrika entdeckt
Selbst Afrika ist in den Augen von Angela Merkel ein gutes Beispiel für den Segen des Multilateralismus. Ihre Rede klang in Davos beinahe so, als habe die Bundeskanzlerin endlich eingesehen, dass die bisherige Politik der EU gegenüber Afrika die Armutsflucht von dort geradezu befördert hat. Ob ihre Lobpreisung Afrikas in Davos aber tatsächlich bedeutet, sie habe inzwischen begriffen, welche katastrophalen Auswirkungen es beispielsweise hatte, afrikanische Staaten mehr oder weniger zu erpressen, ein Freihandelsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, gegen das sich vor allem Kenia verzweifelt gewehrt hatte, weil es das Abkommen als Einbahnstraße für EU-Konzerne sieht, ist fraglich:
„Afrika wird ja oft aus der europäischen Perspektive als ein Problemkontinent gesehen. Wenn Sie sich mal anschauen, wie Afrika Schritt für Schritt multilateral zusammenarbeitet, ein Riesenkontinent mit – 2050 – zwei Milliarden Einwohnern, der seine Afrikanische Union stärkt, der Regionalverbände stärkt, der Freizügigkeit einführen will, der eine starke, klare Vorstellung über zukünftige Infrastrukturprojekte hat, dann glaube ich, müssen wir Afrika auch als Chance sehen. Und das gilt gerade für uns Europäer, die wir Nachbarn von Afrika sind.“
Merkel will EU militärische Komponente verpassen, aber eine Gegen-Nato soll es nicht sein
Wenn es um die Beweisführung für die Vorzüge der internationalen Zusammenarbeit geht, dann muss bei Angela Merkel auch ihr Versuch herhalten, aus der Europäischen Union über kurz oder lang eine zweite Nato zu machen, auch wenn sie diese Befürchtungen in Davos natürlich strikt dementierte:
„Wir wollen in Zukunft auch unsere Verteidigungsfähigkeiten zusammenlegen. Das ist auch eine Frage des Selbstverständnisses. Diese gemeinsame, strategische Verabredung, Verteidigungspolitik gemeinsam zu denken, ist nicht gegen die Nato gerichtet. Es kann der Nato sogar die Sache erleichtern, denn wir haben heute über 170 Waffensysteme, die Vereinigten Staaten von Amerika haben, glaube ich, unter 60, und Sie können sich vorstellen, was das für ein Effizienzverlust ist bei Training, Ausbildung, Wartung. Und die Entscheidung zum Beispiel von Deutschland und Frankreich, in Zukunft gemeinsam Kampfflugzeuge zu bauen, gemeinsam Panzer zu bauen, ist natürlich eine strategisch sehr, sehr wichtige Entscheidung.“
Merkel mahnt: Nur wirtschaftlich starke, einige EU kann sich gegen US-Sanktionsdiktat wehren
Nicht nur in Washington wird man diese Bekundungen mit Interesse registriert haben. Dort wird allerdings eine Bemerkung Merkels in Davos, die sie nach ihrer Rede in einem kurzen Frage-Antwort-Teil fallen ließ, mit ziemlicher Sicherheit noch aufmerksamer zur Kenntnis genommen worden sein. Merkel äußerte sich zu den extraterritorialen Sanktionen der USA, mit denen die westliche Führungsmacht sehr unverblümt zeigt, was die hohlen Phrasen von der westlichen Wertegemeinschaft und der Freundschaft mit den Verbündeten wirklich wert sind. Merkel hat natürlich schon lange begriffen, dass diese US-Sanktionen der rücksichtslose Versuch sind, eigene ökonomische Interessen durchzusetzen. Ihre Analyse ist – typisch für sie – emotionslos sachlich, dennoch unterschwellig auch ein weiterer Appell an die Europäer, zu begreifen, dass nur gemeinsam demonstrierte Stärke eine echte Chance für effektive Gegenwehr bietet:
„Die Vereinigten Staaten von Amerika können, wenn wir mal an das Iran-Abkommen denken, durch die extraterritoriale Wirkung ihrer Sanktionen das Verhalten von Unternehmen direkt beeinflussen. Und das liegt einzig und allein an der wirtschaftlichen Stärke, an der Stärke des Dollars. Und da ist natürlich schon die Frage, wie wir auch mit dem Euro-Raum so dominant werden können. Wie können wir den so fixieren, dass er auch eine ökonomische Kraft auf die Waagschale bringt? Denn wenn man das selber nicht tut, dann wird man natürlich in gewisser Weise auch – ich will mal nicht ganz hart rangehen – ich sag mal steuerbar. Und da muss man die Kräfteverhältnisse einsehen, und gegen die wird das nichts, und deshalb muss man ökonomisch stark sein, um sich durchsetzen zu können.“
Merkel rüttelt am Einstimmigkeitsprinzip, um einstimmige EU-Außenpolitik zu bekommen
Weshalb für Merkel die logische Konsequenz auch eine gemeinsame Außenpolitik der EU ist:
„Wir haben keine (mit Mühe manchmal) einheitliche, aber auch an vielen Stellen eine uneinheitliche Russland Politik, wir haben keine einheitliche Politik in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika und auch keine einheitliche China-Politik. Und wenn wir ernst genommen werden wollen, müssen wir das tun. Das heißt, wir brauchen hier flexiblere Instrumente. Ich habe zum Beispiel mal einen europäischen Sicherheitsrat vorgeschlagen, wo man rotierende Mitgliedschaften hat, wo weniger Länder dann entscheiden können, wie man sich in bestimmten außenpolitischen Situationen verhält, um nicht immer einen ewig langen Prozess durchführen zu müssen.“
Das wäre das Ende des Einstimmigkeitsprinzips in der EU. Es ist zweifelhaft, ob die kleineren Mitgliedsstaaten diese grundlegende Änderung der Machtverhältnisse in der Union hinnehmen würden. Insbesondere gilt das für die osteuropäischen jungen EU-Staaten, die nicht ohne Grund von den USA immer wieder als willkommenes Instrument benutzt werden, um die EU zu spalten und auseinander zu dividieren. Das dafür unabdingbare Einstimmigkeitsprinzip werden sich diese Staaten, die vom seinerzeitigen US-Präsidenten George W. Bush nicht ohne Hintersinn als „neues Europa“ tituliert wurden, mit ziemlicher Sicherheit nicht einfach wegnehmen lassen, auch nicht für die Chance einer mehr oder weniger effektiven Gegenwehr gegen anmaßende US-Sanktionen.
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